Leseprobe Karate
Im Kapitel „Kneipe mit Max“ geht es für meine Hauptfigur darum, die guten, alten Zeiten reflektierter wahrzunehmen.
…
Ich drehe mich zum Tresen und rufe:
“Einmal Luft rauslassen.”
Als hätte er einen spontanen Sinneswandel durchlebt, erkenne ich doch tatsächlich zwei lachende Mundwinkel hinter seinem Vollbart.
“Ha, der war gut. Ich geb Euch zwei frische Gläser.”
Mit den beiden überschäumenden Bieren gehe ich zurück zu unserem Platz. Ich wische mir die Hand mit der letzten Serviette auf unserem Tisch ab.
“Hier drehen einige entsetzte Menschen sicher direkt auf den Hacken wieder um.”
“Der ist bestimmt gar nicht so übel. Sonst würde sich die Kneipe nicht schon seit Jahren halten.”
“Das mag sein. Aber sag mal, machst Du eigentlich noch Sport?” frage ich Max, welcher lachend antwortet:
“Ha, Kinder stemmen und manchmal auf den Spielplätzen ein paar Klimmzüge. Letztens saß ich auf einer Schaukel.”
Ich verschlucke mich am Bier. Mir läuft es die Wange runter zum Hals.
“Verdammt, jetzt brauchen wir schon die Serviettenreserven vom Nachbartisch. Aber erzähl weiter. Du saßt auf einer Schaukel.” unke ich ihn an.
“Es ist krass wie schnell der Körper nachlässt, wenn man eine Weile nichts gemacht hat.”
“Wieso, musstest Du angeschubst werden, weil Du nicht mehr wusstest wie es geht?” Lacht.
“Nein, beim Hochschaukeln war das unwohle Gefühl im Bauch wie in einer Achterbahn.”
“Ach echt?”
“Ja, ich hab das nicht für möglich gehalten. Ich bin ja eine Weile regelmäßig ins Fitnessstudio gegangen, aber da trainiert man ja weniger seinen Gleichgewichtssinn oder macht irgendwelche Rollen oder Fallübungen wie früher.”
Wir werden sentimental.
“Ja, früher.” Ich schaue aus dem Fenster.
Es entsteht eine kurze Pause in der wir beide die alten Zeiten gedanklich vorüberziehen lassen.
“Weißt Du noch wie wir das letzte gemeinsame Turnier dominiert haben?” unterbreche ich das Schweigen.
“Ja na klar! Das war eine großartige Erfahrung. Drei Monate intensives Training und dann auf den Punkt vorbereitet. Du hättest ja fast den finalen Kampf verloren. Da hast Du die Spannung für unseren Verein ziemlich hochgehalten. Wurdest Du nicht sogar vom Trainer angeschrien?”
“Es klingelt noch nach „Wieso gehst Du immer zurück? Du musst vor! Als erster angreifen! Sonst bekommst Du keinen Punkt!“ Naja und dann habe ich ja glücklicherweise die Lücke gesehen. Beziehungsweise war das ja eine Einladung von ihm. Er stürmt mit seiner Übergröße auf mich zu, wie im gesamten Kampf, und nahm die Deckung runter als er mit seinem Mae Geri Fußtritt angriff. Den konnte ich schön leerlaufen lassen und ZACK hatte er meine Knöchel am Kinn.”
“Kizame Zuki war ja Deine Geheimwaffe in der Zeit.”
Ich lehne mich zurück.
“Hab ich auch viel geübt als Kumite Spezialist. Aber mit seiner Reichweite kam ich irgendwie nicht klar. Wenn Schuhgröße 50 auf Dich einlatscht sieht das mal schlecht aus mit durchschnitts kurzen Armen.” Max verdreht seine Augen.
“Was ist los?” frage ich ihn.
“Ach nichts.”
“Quatsch. Natürlich ist was. Was sollte das?”
Ich mache seine Augenbewegung nach. “Das kann ich überhaupt nicht leiden.”
Max winkt ab und erwidert.
“Du hättest ein bisschen mehr Kata üben sollen. Das hätte Dich etwas runtergefahren.”
“Nee, diese Formen stupide auswendig zu lernen ist nichts für mich. Ich brauche einen Partner damit ich die Kombinationen nachempfinden kann. Immer nur in die Luft hauen bringt doch nichts.”
“Und jetzt gehst Du, sensibilisiert für Deine Fußsohlen, im Schneckentempo an mein Haus?”
“Das ist was anderes.”
“Ist es das?” Max zieht seine Stirn hoch und schaut mich gezielt an. Er lehnt sich dabei an, verschränkt seine Arme und äfft mich nach: “Als Kata Spezialist, zumindest war ich für dieses Turnier nur dafür gemeldet, glaube ich geht es um mehr. Es geht doch nicht immer darum jemanden umzuhauen…”
“Macht aber spaß!” übertreibe ich.
“In den Katas steckt ja ein Geheimnis der alten Meister, welches es zu entdecken gilt. Du findest eine Balance zu Deinem Körper. Übst Du eine Kata ständig und immer wieder, kommst Du in einen Flow. Alles bewegt sich dann irgendwie automatisch.”
“Das ist mir zu esoterisch.”
“Es sind doch auch Anwendungen dabei, die Bunkai-Formen. Die hast Du doch auch mittrainiert.”
“Ja, aber das sind alles abgesprochene Sequenzen. Du weißt was Dein Partner angreifen wird und bleibst in vorgefertigten Bewegungsmustern. So lernt man doch keinen Freikampf.”
Max lässt eine Pause und trinkt einen Schluck.
“Du wirst das nie verstehen.”
“Dann erklärs mir. Aber warte kurz.” Ich bestelle zwei Schnaps. “Weiter bitte!”
“Ich glaube mit viel Übung kann man es schaffen auch im Kampf besser zu werden. Übst Du mit Dir selber, übst Du auch Dich zu überwinden. Eine Bewegung oder eine Abfolge nochmal und nochmal und nochmal zu machen erfordert eine Menge Disziplin. Ich glaube man lotet seine Grenzen mit sich selber aus. Schiebt man die Grenze weiter hinaus, schafft das Selbstvertrauen. Von dem Du damals ein bisschen zu viel hattest.”
Ich werde plötzlich sauer.
“Was soll das denn schon wieder heißen?”
Max grummelt und überlegt ob er weiter erzählen soll. Ich wende ein:
“Wollen wir vor die Tür gehen und das klären oder soll ich noch eine Runde Schnaps bestellen?”
“Treib es nicht zu weit.” sagt er ernst. “Aber so ein kleines Gläschen ist ja wie Medizin.”
“Na die Kurve hast Du ja gerade noch so bekommen. Aber jetzt erzähl schon. Was war denn Deiner Meinung nach los mit mir, damals.”
“Nach dem Turnier warst Du ein Angeber. Ja selbstherrlich. Du hast damit geprahlt wie toll deine Karatekünste waren. Als Du mit Jule bei der Party angebändelt hast, warst Du megapeinlich. Flaschen den Hals abschlagen, Bierdeckel mit den Fingern durchbohren. Alles Blödsinn. Musste das sein?”
“Das mit den Bierdeckeln war aber schon irgendwie cool.”
Ich nehme drei vom Tisch, bilde mit dem linken Daumen und Zeigefinger einen Kreis auf den ich die Deckel platziere. Ich schaue kurz ob es niemand sonst sieht und FLOMP, der rechte Zeigefinger durchstößt die Pappdeckel. Max fasst sich an den Kopf.
“Oh man! Du hast davon gesprochen Leistungssportler zu sein.”
“Waren wir doch auch. Und was ist verkehrt daran sich über einen Turniersieg zu freuen. Du warst doch genauso Meister in der Kategorie Kata.”
“Ja genau. Merkst Du wie komisch das klingt? Zwei Meister gehen aus einem Turnier hervor? Und das war nur unsere Altersgruppe. Zählt man alle zusammen, also Männlein, Weiblein, Gewichtsklassen und auch die Kinder, sind an diesem Tag 25 Leute Meister gewesen. Und, hey, es waren nur Landesmeisterschaften. Es gibt noch unzählige andere Vereine die Landes-, Bezirks-, offene Meisterschaften ausrichten. Selbst Deutsche Meisterschaften gibt es einige verschiedene.”
Was will der von mir? Wir waren einfach gut.
“Habe ich Dir Jule weggenommen? Bist Du sauer deswegen? Ich hätte Dir gerne den Vortritt gegeben.”
“Aaaarrrrrg! Du merkst es immer noch nicht.”
“Was willst Du? Wir erzählen doch nur von früher.”
“Ja genau, von früher. Jetzt sitzen wir in einer Bar und beweihräuchern uns an unseren Erfolgen, welche über zehn Jahre her sind. Und noch was: Leistungssport beginnt bei vierstündigem, täglichen Training. Und zwar mindestens fünf Tage die Woche. Wir sind maximal dreimal zum Training gegangen, welches eineinhalb Stunden ging.”
“Bist du fertig? Mein Arm schläft langsam ein.”
Seit einer Weile halte ich meinen Schnaps hoch um ihm zu signalisieren, mit ihm anstoßen zu wollen.
“Prost.”
“Prost.”
Max wendet ein:
“Das war mein letzter. Lass uns zahlen und noch ein wenig durch die Straßen ziehen.”
…