Leseprobe Therapie
Im Kapitel „Lauras Party“ trifft mein Durchschnitspatient unrewartet auf seinen Therapeuten.
…
„Schön Sie kennen zu lernen, Sie müssen der sein, von dem alle erzählen, dass er nicht kommen kann.“
„Unfassbar oder? Ich hab heut Mittag selbst nicht dran geglaubt.“
Mark: „Ist es der Rücken?“
„Treffer und versenkt. Aber denken Sie an Ihre Schweigepflicht.“ Sage ich und grinse zurück. „Es überrascht mich, meinen Physiotherapeuten bei einer Feier anzutreffen.“
Mein Ablenkungsmanöver scheint gut zu funktionieren.
„Oh, ein Physiotherapeut.“ Einer der herumstehenden Gäste greift sich auf die Schulter und rotiert seinen Arm. „Da hab ich gleich mal eine Fachfrage. Immer wenn ich so mache knackt das hier und manchmal tut es sogar weh. Was ist denn das?“
Mark scheint auf eine Situation dieser Art vorbereitet zu sein und nimmt es mit Humor. Er umklammert deutlich sichtbar seine Flasche und antwortet:
„Ich hab grad beide Hände voll zu tun. In meiner Praxis kann ich mir das aber gerne mal in Ruhe anschauen. Aber einen Tipp habe ich schon. Nicht so machen!“
…
Im Verlaufe des Gespräches geht es auch um das hinkende System, Physiotherapie.
…
„Für den Heilungsprozess eines Patienten ist es häufig sinnvoll, sich mehr Zeit zu nehmen als die 20 Minuten. Bei Bauchmuskelübungen zum Beispiel brauche ich keine Sit-ups mit meinem Patienten machen, wenn sein Körper das Beckenrollen noch nicht umsetzen kann. Da ein Baustein auf dem nächsten aufbaut, wird meine Arbeit sinnlos, wenn ich mir nicht die Zeit für wichtige Details nehme und stattdessen Patienten wie am Fließband durchschiebe. Am besten wäre es, wir würden entsprechend unseres Fachwissens bezahlt werden. Beziehungsweise so wertschätzend im Gesundheitssystem eingebunden werden, damit wir uns gedanklich ganz auf den Patienten einstellen können. Vielleicht auch selbst die Zeit und die Anwendung bestimmen, welche wir als notwendig erachten.
Allerdings ist derzeit jede Physiotherapiepraxis, jedes Krankenhaus und auch die Pflegeeinrichtung ein Wirtschaftsunternehmen. In dem System in dem wir stecken, sind wir Therapeuten und Ärzte häufig gezwungen Kompromisse in der Versorgung unserer Patienten einzugehen. Das ist doch Mist! Wir können manchmal gar nicht das machen, was aus medizinischer Sicht notwendig ist.
Und dieser ganze bürokratische Unsinn nebenbei. Zudem sehe ich ein Riesenproblem darin, dass die Sachbearbeiter bei den Krankenkassen, welche keine medizinische Ausbildung genossen haben, aber darüber entscheiden können, wer wie viel Behandlung bekommt und wer nicht.“
Der Vierte im Bunde, ein eingeladener Nachbar, welcher den Altersdurchschnitt der Feier deutlich hebt, steigt mit seinem Erfahrungsbericht in die Unterhaltung ein.
„Das habe ich am eigenen Leibe erfahren. Ich habe letztens kein Rezept bekommen, mit der Begründung, das Kontingent des Arztes sei zum Quartalsende ausgeschöpft.“
„Genau das meine ich. Ist es nicht eigentlich der Arzt, der Jahre lang studiert hat, um genau das einschätzen und beurteilen zu können, was für einen Patienten mit Beschwerden das Beste wäre? Wir hatten sogar mal einen Fall, bei dem ein Dauerpatient nach einem Schlaganfall aus Kostengründen keine Behandlung mehr bekommen sollte, obwohl es deutlich sichtbare Verbesserungen in der laufenden Therapie gegeben hat, welche von mir und dem behandelnden Arzt auch dokumentiert werden konnten.
Ich denke es ist ein Systemfehler, dass Leute, die den Patienten nie gesehen haben und auch gar nicht einschätzen können was dieser benötigt, die Entscheidung darüber fällen, wer eine Behandlung bekommen darf und wer nicht.“
Täuscht mich mein Eindruck oder hat sich der immer lustige Geselle gerade aufgeregt? Ich wende mich dem älteren Herrn zu:
„Vielleicht hast du beim Arzt nicht die richtigen Argumente eingebracht. Meine Oma bekommt seit Jahrzehnten regelmäßig Massagen verordnet. Zu meinem Leid, redet sie auch ständig darüber. Jede Woche lässt sie sich einmal verwöhnen. Ich frag mich immer wieder, und gerade mit deiner Geschichte, wie die an so viele Verordnungen rankommt?“
Er zuckt mit den Schultern.
„Habt Ihr nicht auch Patienten die regelmäßig zu Euch kommen? Wie machen die das?“ frage ich Mark.
„Hat deine Oma eine schwere Erkrankung oder eine ältere OP?“
„Ja, so Einiges. Hüfte, Knie, Schulter, Rücken, es gab auch schon ein paar Operationen. Allerdings habe ich aufgehört genauer nachzufragen. Es ist immer dieselbe Leier. Sie erzählt immer wie gut es ihr nach der Massage geht und dass sie sich schon auf nächste Woche freut. Und den einen Spruch, den bringt sie jedes Mal: „Das sind die Geschenke des Alters. Die gibt es umsonst. Wart nur ab, da kommst du auch noch hin.““
„Nichts gegen Deine Oma, aber „solche“ Patienten,“ da waren die Fingerchen wieder, „gibt es sicher in jeder Praxis. Aus physiotherapeutischer Sicht sind sie austherapiert. Die Behandlung stagniert und irgendwann stellt sich auch ganz klar raus, dass die nie ihre Übungen machen, sondern immer nur drumherum reden. Boa, da fallen mir grad ein paar Kaliber ein.“
„Ja? Erzähl mal!“ Mark trinkt einen Schluck und wendet ein, dass dies sein letztes Bier sein wird, da er sich sonst nicht mehr an seine Schweigepflicht erinnern kann.
„Och schade. Jetzt wo es spannend wird.”
“Das mit Deiner Oma hört sich ein bisschen so an, als nimmt sie ihre Wehwehchen als Gottgegeben hin und gibt ihren Körper wie ein Auto in der Werkstatt ab, um ihn reparieren zu lassen.”
“Was für ein schöner Vergleich.” sage ich lachend.
“Finde ich auch, aber Du hattest gefragt, wie die das machen mit den vielen Rezepten. Ganz einfach, die gehen zu verschiedenen Ärzten. Einige haben ja tatsächlich so viele Krankheitsbilder, dass sie von dem einen Arzt eine Verordnung für den Fuß bekommen, von einem anderen eine Verordnung nach der Knie-OP, von dem nächsten eine für den Rücken. Dann noch eine für den Nacken, später wegen der Schulterschmerzen, nach der Karpaltunnel-OP, und so weiter.“
„Da scheint die interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht zu klappen. Und überhaupt, warum ändert sich denn da nichts, wenn die ständig in Behandlung sind?“
„Guter Einwand Max. Das ist etwas, was viele Menschen nicht verstehen.“
Mark lässt eine künstliche Pause, um seinen folgenden Worten mehr Gewicht zu verleihen. „Sie sind selbst verantwortlich für ihren eigenen Körper! Es gibt leider zu viele Dauerpatienten, welche glauben, auf regelmäßige therapeutische Hilfe angewiesen zu sein und die Eigenverantwortung abgeben wollen.
„Mein Knie, dass muss halt mal gemacht werden.“ Oder:
„Ach das Kribbeln in den Beinen hab ich doch schon ewig.“
Natürlich haben diese Menschen deutliche, behandlungsbedürftige Befunde und bekommen aufgrund dessen auch immer wieder ihre Rezepte. Aber dass sie selbst aktiv werden müssen, das verstehen die nicht.“
Mark bekommt ein unerwartet neues Gesicht. Es stellt sich eine leichte Rotfärbung ein und die eine Ader an seiner rechte Schläfe tritt etwas in den Vordergrund.
…